I. Einleitung
Mit Urteil vom Dezember 2024 (Az. 73/2024), veröffentlicht im Juli 2025, hat das Abu Dhabi Court of Cassation eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, die erhebliche praktische Relevanz für Arbeitgeber in den Vereinigten Arabischen Emiraten entfaltet. Die Entscheidung betrifft die Abgeltung von über einen Zeitraum von mehr als 13 Jahren nicht genommenen Urlaubstagen und weicht dabei in wesentlichen Punkten von der bislang gefestigten Rechtsprechungspraxis insbesondere in Dubai ab. Sie betont die strikte Einhaltung der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflichten sowie die umfassende Dokumentationsverantwortung des Arbeitgebers. Der vorliegende Beitrag analysiert die tragenden Erwägungen der Entscheidung, vergleicht die abweichende Rechtsprechungslinie in den übrigen Emiraten und zeigt praxisrelevante Handlungserfordernisse für die betriebliche Umsetzung auf.
II. Sachverhalt und prozessuale Vorgeschichte
Der Kläger war über einen Zeitraum von 13 Jahren bei einem Unternehmen in Abu Dhabi beschäftigt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Jahr 2022 machte er gegenüber dem ehemaligen Arbeitgeber einen Anspruch auf Auszahlung sämtlicher nicht in natura genommener Urlaubstage geltend. Der Arbeitgeber lehnte die Forderung ab und berief sich auf die gängige Praxis, wonach rückwirkende Ansprüche regelmäßig auf einen Zeitraum von zwei Jahren beschränkt seien.
Sowohl die erstinstanzliche Entscheidung als auch das Berufungsurteil folgten dieser Argumentation und erkannten lediglich einen Teilbetrag zu. Der Arbeitnehmer erhob daraufhin Revision zum Abu Dhabi Court of Cassation, das die vorinstanzlichen Entscheidungen aufhob und den Arbeitgeber zur vollständigen Abgeltung sämtlicher nicht genommener Urlaubstage über den gesamten Beschäftigungszeitraum verurteilte.
III. Rechtliche Bewertung durch das Abu Dhabi Court of Cassation
Die Entscheidung stützt sich im Wesentlichen auf die Auslegung von Artikel 29 des Bundesgesetzes Nr. 33 von 2021 zur Regelung von Arbeitsverhältnissen in den VAE sowie auf die hierzu ergangene Durchführungsverordnung (Cabinet Resolution No. 1 of 2022). Danach steht Arbeitnehmern ein Anspruch auf mindestens 30 Kalendertage bezahlten Jahresurlaub zu, der grundsätzlich im laufenden Jahr zu gewähren ist.
Das Gericht stellte klar, dass die Beweislast für die tatsächliche Gewährung oder Auszahlung von Urlaubstagen beim Arbeitgeber liegt. Dieser konnte im konkreten Fall weder Urlaubsanträge noch entsprechende Genehmigungen oder Ausgleichszahlungen nachweisen. Vor diesem Hintergrund ging das Gericht davon aus, dass der Urlaub weder genommen noch abgegolten wurde. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen komme eine Beschränkung des Abgeltungsanspruchs auf zwei Jahre nicht in Betracht, da eine solche Begrenzung voraussetze, dass dem Arbeitnehmer der Urlaub tatsächlich angeboten wurde und er ihn aus freien Stücken nicht wahrgenommen habe – was vorliegend nicht der Fall war.
Bemerkenswert ist, dass das Gericht ausdrücklich betonte, dass eine unternehmensinterne Praxis, Urlaubsansprüche über längere Zeiträume zu ignorieren oder auf eine Verjährung zu hoffen, mit den zwingenden Schutzvorschriften des Arbeitsrechts nicht vereinbar sei. Der Kläger erhielt daraufhin eine Urlaubsabgeltung in Höhe von AED 59.290, berechnet auf Basis seines zuletzt bezogenen Grundgehalts.
IV. Abgrenzung zur Rechtsprechung in anderen Emiraten
Die Entscheidung weicht in signifikanter Weise von der bisherigen Spruchpraxis der Gerichte in anderen Emiraten, insbesondere in Dubai, ab. Dort vertreten die Arbeitsgerichte weitgehend die Auffassung, dass rückständige Urlaubsansprüche – sofern sie nicht ausdrücklich vertraglich oder betrieblich überjährig gesichert wurden – einer zweijährigen Verjährung gemäß Artikel 54 Absatz 7 des Bundesgesetzes Nr. 33 von 2021 unterliegen und daher nur in eingeschränktem Umfang abzugelten sind.
Das Abu Dhabi Court of Cassation hingegen legt den Fokus auf die arbeitgeberseitige Pflicht zur proaktiven Urlaubserteilung sowie auf eine lückenlose Dokumentation. Mangels entsprechender Nachweise wird der volle Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers angenommen, ohne eine zeitliche Begrenzung.
Ob diese Rechtsprechung eine grundsätzliche Kehrtwende im gesamten Bundesgebiet einläutet oder zunächst auf Abu Dhabi beschränkt bleibt, bleibt abzuwarten. Angesichts der Stellung des Abu Dhabi Court of Cassation als höchstes emiratisches Arbeitsgericht besitzt das Urteil jedenfalls erhebliche Signalwirkung.
V. Gesetzgeberische Neuerungen: Verlängerung der Verjährungsfrist
Zu beachten ist zudem, dass durch das Inkrafttreten des Federal Decree-Law No. 9 of 2024 mit Wirkung zum 31. Juli 2024 die maßgebliche Verjährungsfrist für arbeitsrechtliche Ansprüche gesetzlich neu geregelt wurde. Nach der Neuregelung beginnt die zweijährige Frist zur Geltendmachung solcher Ansprüche nunmehr erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu laufen. Dies stärkt die Durchsetzbarkeit rückständiger Entgeltansprüche, einschließlich Urlaubsabgeltungen, erheblich und verleiht der Entscheidung zusätzliche praktische Relevanz.
VI. Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
Unabhängig von der Frage, ob sich die neue Rechtsprechung über Abu Dhabi hinaus verfestigen wird, ist Arbeitgebern in den VAE dringend anzuraten, ihre internen Prozesse zur Urlaubsverwaltung auf ihre rechtliche Belastbarkeit hin zu überprüfen. Insbesondere sollten folgende Maßnahmen erwogen werden:
- Einrichtung eines revisionssicheren, digital dokumentierten Urlaubsantragssystems mit klaren Genehmigungs- und Ablehnungsvermerken,
- Regelmäßige Mitteilung an Arbeitnehmer über offene Resturlaubstage sowie deren Verfallfristen,
- Anpassung bestehender Arbeitsverträge und HR-Policies an die aktuelle Rechtslage unter Berücksichtigung der neuen Verjährungsregelungen,
- Dokumentierte Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Nur durch eine konsistente und transparente Urlaubspraxis lässt sich vermeiden, dass sich nicht genommene Urlaubstage in einem Rechtsstreit zu erheblichen finanziellen Belastungen kumulieren.
VII. Fazit
Das Urteil des Abu Dhabi Court of Cassation (Az. 73/2024) stellt einen Paradigmenwechsel in der arbeitsgerichtlichen Beurteilung von Urlaubsansprüchen dar. Es verdeutlicht, dass sich Arbeitgeber nicht auf eine mutmaßliche Verjährung berufen können, wenn sie ihren Pflichten zur Urlaubsgewährung und zur ordnungsgemäßen Dokumentation nicht nachkommen. Angesichts der aktuellen Gesetzesänderung zur Verjährung arbeitsrechtlicher Ansprüche ist mit einer erhöhten Anzahl entsprechender Klagen zu rechnen. Unternehmen sind gut beraten, ihre internen Prozesse vorausschauend rechtskonform zu gestalten – nicht zuletzt, um gerichtlichen Auseinandersetzungen wirksam zu begegnen.